Beim Gedenken an die Errettung aus Kriegsnot und das damit verbundene Gelübde vom April 1945 stellte Bürgermeister Christian Kiendl eine Verknüpfung mit dem Krieg gegen die Ukraine und dessen Folgen her. Angesichts dieser jüngsten Katastrophe kommen bei den älteren Mitbürgern Erinnerungen an Tod, Flucht und Vertreibung ab 1945 auf. Für ihn war klar, dass der Umgang mit der Erinnerung an die Katastrophen der Vergangenheit, sowie der Umgang mit der Bitte und dem Glauben der Vorfahren an die Rettung im Spiegelbild zeigt, was aus der Geschichte gelernt oder auch nicht gelernt wurde.

Der Bürgermeister freute sich über die Anwesenheit der beiden Pfarrer Bernhard Pastötter und Uwe Biedermann, der Ehrenbürger Otto Gascher und Richard Rohrer, sowie über das Mitwirken der Schierlinger Doafmuse. In einer eindringlichen Ansprache machte er bewusst, dass in Schierling in den letzten zwei Jahren beinahe der Sinn verloren gegangen, und der Blick für die Wichtigkeit und Notwendigkeit der Dankbarkeit verstellt worden wäre. „Die Ende April 1945 für Schierling und Umgebung bestehende riesige Gefahr, die Angst der Bevölkerung, die Aktivitäten der Verantwortlichen und das Gelübde mit der wundersamen Rettung waren so weit weg, dass sie ins Hinterstübchen unserer Gehirne zu entschwinden drohten. Kaum mehr jemand erinnert sich heute an die Zeit von damals. Das Gelübde sei erledigt – „basta !“ – war zu hören“, so Kiendl. Der Marktgemeinderat habe aber vor fast genau einem Jahr beschlossen, dass das Erinnern und Gedenken fortbestehen soll. Gottseidank, so Kiendl, denn eine „erledigt“-Mentalität habe manchen älteren Menschen dann doch weh getan.
Eine solche Mentalität habe sich aber nicht nur in Schierling breit gemacht. Sie habe dem, wenn auch nicht gerade verantwortungsvollen, Zeitgeist entsprochen. Kiendl zitierte den französischen Schriftsteller und Philosoph Bernard-Henri Lévy, der allen jüngst den Spiegel vorgehalten habe: „Wir waren vom Ende der Geschichte überzeugt. Wir dachten, das Zeitalter des Tragischen liege hinter uns. Wir dachten, dass die Institutionen, die wir erschaffen haben, widerstandfähig genug wären … Wir lebten in einer Mischung aus Optimismus und institutioneller Zuversicht … Wir dachten, dass uns nichts passieren könne. Das war ein dramatischer Irrtum“, so der Philosoph. Man habe sich zumindest unbewusst darauf eingestellt, dass sich alle Probleme im Kommerz auflösen ließen. Er fasste zusammen: „Die Europäer haben den Sinn für das Tragische und den Sinn für die Realität verloren.“ Ein solches Verdrängen und Vergessen der Realität habe jetzt Europa schmerzhaft eingeholt, denn es sei wieder Krieg in Europa, so Kiendl. Zig-tausende müssen wieder sterben, Millionen ihre Heimat verlassen.
Kiendl erinnerte daran, dass Mitte des Jahres 1949 nach dem Zweiten Weltkrieg gut 1,9 Millionen Flüchtlinge in Bayern waren. Auch in Schierling hätten aufgrund von Flucht und Vertreibung bis zu 700 Menschen, zum Beispiel aus Schlesien, Ostpreußen, Böhmen, aus der Bukovina und vielen anderen östlichen Gegenden eine vorübergehende oder bleibende Heimat gefunden. „Der Glaube kann Berge versetzen“, zitierte er Hanna Hofstetter, die selbst Flüchtling war und zeitlebens Dankbarkeit für die Aufnahme in Schierling zeigte. „Beinahe wäre dieses Erinnern, auch, dass der Glaube Berge versetzen kann, in einem ‚basta‘ versunken. Welch eine tragische Entwicklung und Fehleinschätzung, die gottseidank nicht die Oberhand bekam“, sagte der Bürgermeister.
Die Schierlinger Gesellschaft sei sich der Leistungen in diesem Zusammenhang sehr bewusst. Kiendl nutzte die Gelegenheit, um im Namen des Marktes Schierling denen zu danken, die sich aktuell wieder für Flüchtlinge engagieren, die solche aus der Ukraine aufnehmen oder vermitteln, die Sachen spenden, und Hilfstransporte fahren mit medizinischem Material und mit Lebensmitteln, die Geld spenden für Flüchtlinge, die zum Beispiel in Moldawien bleiben. Er erinnerte an die riesige Hilfsaktion vor 30 Jahren für die Flüchtlinge in Kroatien, und an die Flüchtlingshilfe der letzten Jahren für Menschen aus Syrien und anderen Ländern. „Viele Ehrenamtliche haben sich eingebracht, um den Menschen zu helfen, deren Heimat schon damals zu einem großen Teil von Putins Leuten zerbombt worden war“, so der Bürgermeister.
Über all dem stehe der Anspruch und das Bewusstsein, dass die Starken den Schwachen beistehen, ja konkret helfen müssen. Heute werde klarer denn je, dass sich nicht alle Probleme im Kommerz auflösen lassen, wie der Philosoph Levy bewusst macht. Heute werde klarer denn je, dass nicht alles unter Kostengesichtspunkten gesehen werden darf, und dass sich eigentlich niemand, aus welcher Solidargemeinschaft auch immer, ausschließen darf. Es werde auch klar, dass angesichts des Putin-Krieges gegen die Ukraine eine „bequeme Nie-wieder-Rhetorik“ alleine nicht genügt, um die Gesellschaft ausreichend wachsam zu halten, damit sie fortwährend aus der Geschichte lernt. Es sei wichtig, mit der Erinnerung an die Katastrophen der Vergangenheit, sowie dem Umgang mit der Bitte und dem Glauben der Vorfahren an die Rettung zu zeigen, was aus der Geschichte gelernt oder auch nicht gelernt wurde.
Der Bürgermeister legte einen Kranz nieder und bat: „Mögen wir auch in Zukunft in Frieden leben können und leben lassen.“ Am Gedenkstein weht eine eigens angeschaffte Friedensfahne und die Doafmuse intonierte die Bayernhymne sowie das Deutschlandlied. Kiendl dankte für die Teilnahme an dem Gedenken, denn diese zeige, dass man über alle Meinungsverschiedenheiten in Sachfragen hinweg beim Thema Frieden und Friedenswille zusammenstehe.

Fotos:

01-05: In Schierling wurde zum Andenken an die Errettung aus Kriegsnot vor 77 Jahren am Gedenkstein ein Kranz niedergelegt

02-01: Bürgermeister Christian Kiendl stellte vor der eigens angeschafften Friedensfahne fest, dass sich im Erinnern zeige, was man aus der Geschichte gelernt hat

Fotos. Fritz Wallner