„Man stolpert mit Kopf und dem Herzen“

Ein „Stolperstein“ erinnert seit 26. Juli 2010 vor dem Rathaus Schierling an die gebürtige Schierlingerin Therese Wallner, die Ende November 1940 durch die so genannte „T4-Aktion“ der Nationalsozialisten ermordet wurde. Es ist der erste „Stolperstein“ für ein nationalsozialistisches Euthanasie-Opfer und der erste Stolperstein im Landkreis Regensburg überhaupt, sagte Dieter Weber, Leiter des Evangelischen Bildungswerks Regensburg, am Rande der Verlegung. Bürgermeister Christian Kiendl appellierte, niemals die Gräueltaten des Dritten Reichs zu vergessen.

Foto des Stolpersteins am Rathausplatz
Der kleine „Stolperstein“ korrespondiert am Rathausplatz mit dem Relief, das den Umriss des gesamten Marktes Schierling zeigt

Im November 1940 wurde mit Therese Wallner eine Schierlingerin Opfer des Unrechtsregimes der Nationalsozialisten. Sie wurde ermordet, weil sie krank war. Sie wurde vergast, weil sie nicht den übersteigerten Ansprüchen eines „perfekten Menschen“ entsprach. Bürgermeister Kiendl schilderte den Tod von Therese Wallner, die in einer Heil- und Pflegeanstalt in Regensburg wohnte.

„Todeskommandos kamen ins Haus und sortierten die Menschen nach Aktenlage aus.“ Die todbringenden Ärzte hätten sich nicht einmal die Mühe gemacht, mit den Menschen zu sprechen. Therese Wallner wurde Ende November 1940 Opfer der „T4-Aktion“, der ersten Euthanasie-Aktion der Nazis. Sie starb in Hartheim bei Linz.

„Wir sind heute zusammengekommen, um dieser Frau zu gedenken“, sagte Kiendl. Er appellierte, nicht mit dem Erinnern an die Verbrechen des Dritten Reichs aufzuhören. „Wir dürfen das nie vergessen, weil solche himmelschreiende Grausamkeiten nie mehr geschehen dürfen.“ Wahre Politik diene dem Menschen und vernichte ihn nicht. Keine Generation dürfe einen so schlimmen Tatbestand wie die Vernichtung von Menschen aus niedrigen Beweggründen - also Mord - für erledigt erklären. Er freute sich, dass die nächste Generation in Gestalt der Abschlussklasse der Placidus-Heinrich-Volksschule mit Rektorin Gudrun Honke und Lehrer Michael Meyer zur Gedenkveranstaltung gekommen waren. „Wir sind heute hier, weil uns damit auch klar wird, dass das größte Unrecht der Geschichte unseres Volkes nicht irgendwo, sondern ganz nah - in unserer Gemeinde - seine grausamen Spuren hinterlassen hat“, so der Bürgermeister.

Dieter Weber, Leiter des Evangelischen Bildungswerks, berichtete, dass es seit fünf Jahren eine Stolperstein-Initiative in Regensburg gibt, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, mit möglichst vielen „Stolpersteinen“ an die vielen Schicksale der Nazi-Opfer in der Region zu erinnern. Die Gedenktafel für Therese Wallner sei die erste, die im Landkreis Regensburg verlegt wird. Der Stolperstein für Therese Wallner sei auch der erste im Gedenken an ein Euthanasie-Opfer. In Regensburg wurden bereits 55 verlegt, 15 weitere kamen am Montag dazu, berichtete Weber.

Der Künstler beim Verlegen des Steins

 Begleitet von den Trompetenklängen von Sebastian Ottowitz verlegte dann der Künstler Gunter Demnig den Stolperstein in den Gehweg. Demnig, der die „geniale Idee“ - so Weber - zu den „Stolpersteinen“ hatte, sagte, dass inzwischen 25000 Stolpersteine in ganz Europa verlegt wurden. Sogar im deutschen Pavillon auf der Expo in Shanghai seien 16 zu sehen. Im Gegensatz zu den abstrakt großen Zahlen der Nazi-Opfer könne man durch die Gedenktafeln die Einzelschicksale erfahren. „Wer hinsieht, verbeugt sich automatisch vor den Opfern“, sagte Demnig. „Man stolpert mit Kopf und dem Herzen“, zitierte er die Aussage eines Hauptschülers, der damit einmal auf die Frage antwortete, ob denn, wer stolpere nicht auch hinfalle.

Die Pfarrer Josef Helm und Thomas KlennerBürger beim Niederlegen der Blumen

Der evangelische Pfarrer Thomas Klenner sagte, der Stolperstein solle Mahnung sein, einzutreten für die Schutzbefohlenen und für die, die Hilfe brauchten. Der katholische Pfarrer Josef Helm sprach mit den Anwesenden ein Gebet für Therese Wallner und die Opfer der Nazidiktatur. Es wurden rote und weiße Rosen niedergelegt.

Aktion „Stolpersteine“

Die „Stolpersteine“ sind Betonsteine mit einer Kantenlänge von zehn Zentimetern, auf deren Oberseite sich eine individuell beschriftete Messingplatte befindet.

Der Künstler Gunter Demnig erinnert damit an die Opfer der NS-Zeit, indem er vor ihrem letzten selbstgewählten Wohnort Gedenktafeln aus Messing ins Trottoir einlässt. Inzwischen liegen STOLPERSTEINE in 1265 Kommunen Deutschlands (Stand 2019) und in einundzwanzig Ländern Europas.

'Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist', zitiert Gunter Demnig den Talmud. Mit den Steinen vor den Häusern wird die Erinnerung an die Menschen lebendig, die einst hier wohnten. Auf den Steinen steht geschrieben: HIER WOHNTE... Ein Stein. Ein Name. Ein Mensch.

Das Kunstprojet hält die Erinnerung an die Vertreibung und Vernichtung der Juden, der Zigeuner, Sinti und Roma, der politisch Verfolgten, der Homosexuellen, der Zeugen Jehovas und der Euthanasieopfer im Nationalsozialismus lebendig.

Schierling war im Jahre 2010 die 525. Kommune in Deutschland und die erste im Landkreis Regensburg, in der ein „Stolperstein“ verlegt wurde. Insgesamt waren bis dorthin europaweit 25000 solcher Gedenktafeln verlegt worden.

Ansprache des Künstlers
V.l. Künstler Demnig, Dieter Weber vom Evangelischen Bildungswerk Regensburg, Verwandte der Ermordeten, Mitglieder des Marktgemeinderates und Bürger


Hintergrund

Bereits im Jahre 1983 hatte es vom Kulturdezernat der Stadt Regensburg eine Anfrage gegeben. Der damalige Schierlinger Bürgermeister Ludwig Kattenbeck teilte dem mit, dass „wir zweifelsfrei feststellen können, dass Therese Wallner eine Tochter der Müllerseheleute Mathias und Franziska Wallner ist“. Leider sei keine Eintragung über den Tod vorhanden, so Kattenbeck weiter. Der Regensburger Historiker Dr. Hans Simon-Pelanda ist jüngst bei seinen persönlichen Nachforschungen wieder auf die Unterlagen gestoßen und hat sie Sandra Breedlove von der Regensburger „Stolperstein“-Initiative überlassen.

Sie ermittelte, dass die Schierlingerin Therese Wallner, die sich als Patientin in der „Heil- und Pflegeanstalt Regensburg“ befand, zu den Opfern von Hitlers „T4-Aktion“ wurde. Ebenso wie Tausende psychisch kranker Menschen wurde sie nach Hartheim bei Linz gebracht und dort vergast. Es liegt Schriftverkehr vor, wonach im Dezember 1940 die Urne vorhanden war. Am 19. Dezember 1940 wurde der Familie mitgeteilt, dass die Urne beim städtischen Bestattungsamt Regensburg liegt. Am 23. Dezember 1940 – einen Tag vor Heiligabend - bestätigte Mathias Wallner, dass er die Urne seiner Schwester erhalten hat.

Dr. Clemens Cording berichtet in seinem Büchlein „Die Regensburger Heil- und Pflegeanstalt Karthaus-Prüll im „Dritten Reich“ über das brutale und menschenverachtende Vorgehen bei der „T4-Aktion“. Anfang September erschien in Karthaus eine „Kommission von Ärzten und offenbar Medizinstudenten“. Diese arbeitete die Akten durch, hielt sich an – auch an sehr alte – ärztliche Bunde, fragte nur Pflegeschwestern und –brüder und ignorierte sogar einen Eilbrief aus dem Innenministerium, wonach bei den Fragebögen das Benehmen mit dem Anstaltsarzt hergestellt werden müsse.

Text: Nach Sebastian Brückl, Allgemeine Laberzeitung, Juli 2010
Fotos: Fritz Wallner



Auch die Placidus-Heinrich-Grund- und Mittelschule befasst sich mit der Religionslehrerin Monika Gaßner immer wieder mit diesem Thema. Beispielhaft wird der Zeitungsbericht über den Besuch der damaligen 4. Klasse im Juli 2017 veröffentlicht:

Schierlingerin als Opfer des Nazi-Regimes

Grundschüler der Placidus-Heinrich-Schulen informierten sich am „Stolperstein“ beim Rathaus über Euthanasie im Dritten Reich

Schierling. Mit dem „Stolperstein“ am Rathausplatz als Beispiel beschäftigten sich Schülerinnen und Schüler der 4. Klassen der Placidus-Heinrich-Grundschule mit einem Teil der Gräueltaten des Dritten Reiches als schwärzestem Teil der deutschen Geschichte. Die kleine Messingplatte vor der Infotafel am Rathaus erinnert an die im Jahre 1891 geborene Therese Wallner, die im November 1940 von den Nazis als „unwertes Leben“ in Hartheim bei Linz vergast wurde. Fritz Wallner erzählte deren Geschichte und Religionslehrerin Monika Gaßner machte den Kindern deutlich, dass Mord das schlimmste Verbrechen ist, das ein Mensch begehen kann.

Fritz Wallner mit einer Schulklasse
Viertklässler der Schierlinger Placidus-Heinrich-Grundschule informierten sich mit ihrer Religionslehrerin Monika Gaßner (rechts) bei Fritz Wallner (Bildmitte) am „Stolperstein“ beim Rathaus über Mordaktionen der Nazis

Fritz Wallner berichtete, dass schon vor dem Mordprogramm durch die Nazi damit begonnen worden war, die Patienten nach „rassenhygienischen“ Kriterien zu erfassen. Dieser Prozess begann Mitte 1936 in Regensburg mit der Errichtung einer sogenannten „erbbiologischen Station“ in der Heil- und Pflegeanstalt Kartaus, in der die „Bestandsaufnahme der erbkranken Sippen“ erfolgen sollte. Therese Wallner von der Obermühle war aufgrund einer geistigen Behinderung in diese Anstalt gekommen. Bald beschlossen die Nazis, diese Menschen umzubringen, weil sie keinen Wert für die Gesellschaft hätten. Wallner zeigte ein Foto von einem Zeitschriften-Titelbild aus der damaligen Zeit auf dem das Leben eines Menschen mit Geld aufgewogen wurde. „60000 RM kostet dieser Erbkranke die Volksgemeinschaft auf Lebenszeit. Volksgenosse das ich auch Dein Geld“ ist in den Monatsheften „Neues Volk-Die Monatshefte des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP“ zu lesen. „Das war eine haarsträubende Entwürdigung der Menschen und eine eklatante Verletzung der Menschenrechte!“, so Wallner. Denn das menschliche Leben sei das höchste Gut und jeder Mensch ein Geschöpf Gottes. „Niemand darf sich zum Richter über Leben und Tod erheben, und noch dazu auch niedrigen Beweggründen wie Geld!“, so Wallner.

In Regensburg selbst gab es keine Tötungseinrichtungen. Deshalb wurden die dort ausgewählten Personen im Zuge der „T-4-Aktion“ ab November 1940 mit Sammelbussen ins Schloß Hartheim bei Linz in Österreich gebracht und dort mit Kohlenmonoxid-Gas getötet. Bis zum Herbst 1941 handelte es sich um mindestens 640 Personen, darunter auch Therese Wallner aus Schierling. Weil diese Vorgänge auch an die Öffentlichkeit gelangten und vor allem deutsche Bischöfe wie der Münsteraner Bischof Galen und auch Münchens Erzbischof Faulhaber heftig protestierten, wurde die Aktion gestoppt. Clemens Cording, ehemaliger stellvertretender Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Bezirksklinikum Regensburg, hat diese Sachen erforscht und festgestellt, dass die Aktion trotzdem weitergeführt wurde, wenn auch auf öffentlich nicht vernehmbare Weise. Er schätzt, dass von Herbst 1941 bis zum Kriegsende noch rund 1000 Personen absichtlich ums Leben gebracht wurden.

Titelbild des Neuen Volkes
Mit einem zynischen Titelblatt wollte man die Bevölkerung für die Tötungsaktionen gewinnen
 

Kardinal Faulhaber hatte sich am 6. November 1940 mit einem energischen Protestschreiben an Reichsjustizminister Gürtner gewandt und darin beklagt, dass niemand der offene Augen und offene Ohren habe, leugnen könne, „dass heute in unserem Volk eine große Unruhe eingetreten ist, weil das Massensterben der Geisteskranken überall besprochen wird, und leider auch die Zahl der Toten, die Art des Todes.“ Faulhaber verurteilte die „Sterbehilfe und Vernichtung unwerten Lebens“ als Verstoß gegen göttliches Gesetz und sittliche Ordnung.

Fritz Wallner fasst zusammen, dass Therese Wallner damals vergast wurde, weil sie nicht den übersteigerten Ansprüchen der Nazis an einen perfekten Menschen entsprach. Ihre Leiche wurde verbrannt, die Asche konnte ihr Bruder in Regensburg abholen. Es handelte sich um eine abscheuliche Tat und der Stolperstein am Schierlinger Rathaus – der einzige im Landkreis Regensburg - erinnere daran, wie grausam Menschen zu Menschen sein können. Es darf nie vergessen werden, dass es Unrecht ist, Menschen nur deshalb zu töten, weil sie krank sind und es darf nie vergessen werden, dass Gewalt, Lüge, Hass und Willkür keine Mittel der Politik sein und werden dürfen.

Aus diesen Gründen habe der Marktgemeinderat Schierling im Jahre 2010 zugestimmt, dass der Kölner Künstler Gunter Demnig den „Stolperstein“ verlegen konnte. Die Kinder waren beeindruckt von der Geschichte und ihnen wurde schnell klar, dass so etwas nie mehr passieren darf. Im Gespräch ging es auch um die Todesstrafe, die es in manchen Ländern gibt. Monika Gaßner machte an diesem Beispiel deutlich, dass das Unrecht nicht nur irgendwo ganz weit weg war, sondern direkt in der Heimat.


Schloß Hartheim bei Linz

Im Frühjahr 1940 führte man innerhalb weniger Wochen Umbauarbeiten hinsichtlich einer Adaption des Schlosses zu einer Euthanasie-Anstalt durch; die Bewohner wurden zu diesem Zeitpunkt auf andere Pflegeanstalten im Gau Oberdonau verteilt. Sie sollten zu den ersten Opfern der Tötungsanstalt Hartheim werden. Der erste Transport erreichte Hartheim am 20. Mai 1940. Zwischen 1940 und 1944 wurden im Schloss Hartheim rund 30.000 Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung sowie psychisch kranke Menschen ermordet. Sie waren teils Patienten aus psychiatrischen Anstalten und Bewohner von Behinderteneinrichtungen und Fürsorgeheimen, teils Häftlinge aus den KZ Mauthausen, Gusen und Dachau sowie Zwangsarbeiter. Heute beherbergt das Schloss einen „Lern- und Gedenkort“. Details dazu unter www.schloss-hartheim.at.